An den Wanderer
Nach einer Spielhöllennacht auf der Reeperbahn standen wir noch lange vor ihrer Tür und redeten über unsere Zeiten in anderen Städten. Zwei schwarzgekleidete Mädchen, die aufgekratzt vom Lachen in strahlenden Erinnerungen schwammen, als plötzlich ein Wanderer vorbeizog. Mit Umhang und Feder im Filzhut über verflochtenem Haar, wie eine Gestalt aus einem Märchen. Sah uns intensiv an, als er uns passierte. Mein Herz hüpfte und ich fühlte, ich müsste mit ihm ziehen. Ich ließ die Möglichkeit verstreichen und widmete mich unaufmerksam, irritiert über die Begegnung, dem Gespräch zu. Sie bemerkte meine Verwunderung nicht und hörte nicht auf zu reden, und ich formte Sätze in meinem Kopf, gelogenes Es sei schon so spät, morgen früh raus, weil ich ihm folgen wollte. Wie ein Schatten huschte er wieder an uns vorbei, die in der Dunkelheit leuchtenden Augen auf mich gerichtet, so dass mein Inneres gleichzeitig gefror und kochte. Ich unterdrückte mein verbindendes Lächeln und blickte ängstlich weg. Ich wollte mich gerade von ihr verabschieden, als er neben uns stand, grinsend, mit tiefer, mich fallenlassener Stimme sagte: "Stehen zwei schwarze Gestalten in dunkler Nacht, gesellt sich eine Dritte hinzu." Ich erschauderte, mitten in Altona, mitten in meinem Leben. Ich setzte an zu gehen und er legte freundschaftlich den Arm um meine Schulter, flüsterte mir ins Ohr, dass wir denselben Weg hätten, und mein Gesicht leuchtete. Irgendwann war ich ihm schon mal begegnet. In einem anderen Leben, in einem anderen Zustand. Ich kannte ihn und wusste, dass er mir nichts Böses wollte. Wir schlenderten wie ein Liebespaar die lange Straße zu meinem Haus und erzählten uns von unseren Reisen auf der Suche nach Fremdheit und uns selbst. Obwohl er verwahrlost war, fand ich ihn schön, anziehend. Er gab mir Geborgenheit, die ich schon lange nicht mehr empfand, und ich wollte, dass die Straße nie zu Ende ging. Vielleicht war er mein Heimweg. Unter einer Straßenlaterne blieben wir stehen und er strich mir über die Wange, mein Magen verknotete sich, und er sagte: "Die größte Angst des Menschen ist das Gefangensein." Ich konnte nichts gegen die Tränen machen. Die Spirale des Verlorenseins drehte sich schneller und er schloss mich in seine Arme. Deshalb zerrann also alles in meinen Händen. Wegen meiner Angst vor dem Gefangensein. Ich wandte mich immer von Menschen ab, die mir zu nahe traten, die begannen, mich kennen zu lernen. Ich war ständig auf der Flucht. Gegebene Versprechen, unterschriebene Verträge, gemeinsam geplante Projekte lähmen mich, redete ich mir ein. Wir standen lange umarmt da, mein Weinen hörte nicht auf. Er streichelte meinen Kopf, sagte nichts, forderte nichts. Ich mag es nicht, wenn mich Menschen schwach sehen. Als ich mich aus seinen Armen wand, küsste er mich auf die Stirn und sagte bestimmt: "Komm mit mir." Ich erstarrte. Panik kroch durch mich. Ich fühlte mich plötzlich gefangen. Drehte meinen Kopf zur Seite, log ihn an, dass ich Krankenschwester sei und morgen Frühdienst hätte, kramte nach meinem Schlüssel, wurde nervös. Er lächelte und beobachtete ruhig meine hektischen Bewegungen, seine Augen fixierten spöttisch mein Gesicht. "Es gibt nur eine wahre Realität. Hab nicht soviel Angst vor Deinem Leben. Vor Deinen Gefühlen", sagte er. Die Tränen stiegen wieder kochend hoch und ich flüchtete, sperrte meine Haustür auf, umarmte ihn, er flüsterte "Bleib" auf meinen Hals, ich küsste ihn auf den Mund und ging. Im Stiegenhaus brach das Weinen aus mir hervor und ich schleppte mich in den dritten Stock, öffnete meine Tür, schlich durch die dunkle, einsame Wohnung. Neben dem Kastanienbaum vor meinem Fenster stand er noch immer, rauchend, in mein Fenster starrend, obwohl er nicht wusste, wo ich wohnte. Die Angst vor meiner Liebe pochte die ganze Nacht in mir.
Brizz - 14. Nov, 09:37